Was wußte
Nabokov?
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2004, Nr. 67 / Seite
37
Lolita gab es schon - ihr unbekannter
Schöpfer war der Rundfunkreporter, der den Deutschen Hitlers Machtergreifung
verkündete / Von Michael Maar
Kommt uns das nicht
bekannt vor? Ein kultivierter Mann mittleren Alters blickt auf die Geschichte
seiner amour fou zurück. Sie beginnt damit, daß er ins Ausland reist, wo er sich
in einer Pension einmietet. Als sein Blick die Tochter des Hauses trifft, ist es
um ihn geschehen. Sie ist ein blutjunges Mädchen, dessen Reizen er
augenblicklich verfällt. Ungeachtet ihres zarten Alters hat er mit ihr eine
intime Beziehung. Am Ende stirbt sie, und der Erzähler bleibt, für immer von ihr
gezeichnet, alleine zurück. Der Name des Mädchens gibt der Geschichte den Titel
- Lolita. Wir kennen das Mädchen und seine Geschichte, und wir kennen deren
Titel. Auch den Autor meinen wir zu kennen, doch da freilich täuschen wir uns.
Sein Name ist Heinz von Lichberg.
Lichbergs
"Lolita" ist eine achtzehn Seiten lange Erzählung, die im Jahr 1916 erschien -
vierzig Jahre vor ihrem berühmten Namenszwilling. Sie ist das Werk eines
fünfundzwanzigjährigen deutschen Schriftstellers, der so gut wie keine Spuren in
den Literaturarchiven hinterlassen hat. Auch bibliographisch hat sie sich gut
getarnt: "Lolita" versteckt sich in einem Erzählungenband mit dem Titel "Die
verfluchte Gioconda". Ihr Verfasser, der aus hessischem Uradel stammte und
eigentlich Heinz von Eschwege hieß, war im Ersten Weltkrieg Leutnant und
arbeitete später in Berlin als Journalist für die Zeitungen des Scherl-Verlags.
Populär wurde Heinz von Lichberg, als er 1929 über den Transatlantikflug mit dem
Zeppelin berichtete. Das Dokument dieser Reise wurde unter dem Titel "Zeppelin
fährt um die Welt" erfolgreich unters stolze Volk gebracht. Bei dieser Fahrt kam
Heinz von Lichberg auch nach New York - ein gutes Jahrzehnt vor Vladimir
Nabokov.
Es ist bekannt und bleibt doch eine merkwürdige Vorstellung, daß
der erst später in Amerika Eingetroffene um ein Haar eine entscheidende Dummheit
begangen hätte. Im Nachwort zu dem Roman, der ihm Weltruhm und finanzielle
Unabhängigkeit schenken sollte, schreibt Nabokov, daß er öfter in Versuchung
war, das entstehende Werk zu verbrennen. Was wäre gewesen, wenn ihn seine Frau
nicht davon abgehalten hätte? Nabokov wäre als mittelloser writer's writer
gestorben. Google würde heute nicht vierzehn Millionen Einträge für den Titel
herausspucken. Lolita, Texas, würde nicht erwägen, einen anderen Ortsnamen zu
beantragen. Lolita hätte nicht die Karriere vom Namen zum Begriff gemacht. Die
Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wäre um eines ihrer grandiosesten Werke
ärmer. Und dennoch wäre eine gedruckte "Lolita" in der Welt.
Wenn man sie
heute liest und mit dem zum Glück vor den Flammen bewahrten Roman vergleicht,
stellt sich ein leichtes Gefühl der Unwirklichkeit und des Déjà-vu ein. Das Herz
von Lichbergs Geschichte bildet eine Reise nach Spanien. Der namenlose
Ich-Erzähler mietet sich in Alicante in einer Pension am Meer ein. Er plant
nicht mehr als einen geruhsamen Urlaub. Dann aber geschieht es. Nach kleiner
Verzögerung kommt es zu jenem fatalen Blick, bei dem man unweigerlich an die
spätere "Lolita" denken muß. Dort tritt der Ich-Erzähler Humbert Humbert eine
Reise an, um in der Nähe eines Sees ungestört arbeiten zu können. In dem
Städtchen Ramsdale spricht er bei der Zimmervermieterin Charlotte Haze vor, die
er ebenso unattraktiv findet wie ihre Wohnung. Innerlich ist er schon zur
Abreise entschlossen, da sieht er das unsterbliche Mädchen mit kastanienbraunem
Haar, die Wiedergeburt seiner ersten kindlichen Liebe am Meer. Der eine Blick
genügt, und er bleibt. Schon bei Lichbergs Ich-Erzähler genügt ein Blick: "Der
freundliche, gesprächige Wirt wies mir ein Zimmer mit wundervoller Aussicht auf
das Meer zu und es stand mir nichts im Wege, eine Woche ungestörter Schönheit zu
genießen. Bis ich am zweiten Tage Lolita sah, Severos Tochter. Sie war blutjung
nach unseren nordischen Begriffen und hatte zu ihren umschatteten, südlichen
Augen eine seltene, rotgoldige Haarfarbe. Ihr Körper war knabenhaft schlank und
geschmeidig und ihre Stimme voll und dunkel. Aber nicht ihre Schönheit allein
fesselte mich - es ging ein seltsames Rätsel von ihr aus, das mich in den
Mondnächten oft fragend überkam."
Wie Humbert ist unser Erzähler sofort
gebannt und verwirft fortan jeden Gedanken an Abreise. Und wie im Fall des
angenehm überraschten Humbert ist es schließlich Lolita, die den Mann verführt,
nicht umgekehrt. Lichberg schildert das Verhältnis nicht unverblümt, aber die
Ellipsen und Umschreibungen lassen den Leser über die faits bruts kaum im
unklaren. Nach heißen Tagen und schwermütigen Nächten kommt endlich "der Abend
unvergeßlichster Wirklichkeit und märchenhafter Verträumtheit, da Lolita auf
meinem Balkon saß, wie so oft, und mir leise Lieder sang. Aber plötzlich ließ
sie die Gitarre zu Boden gleiten und trat mit zögernden Schritten zu mir an das
Geländer. Und während ihre Augen den flimmernden Mondschein im Wasser suchten,
schlang sie ihre zitternden Aermchen wie ein bettelndes Kind um meinen Hals,
lehnte ihren Kopf an meine Brust und begann haltlos zu schluchzen. In ihren
Augen standen Tränen, aber ihr süßer Mund lachte. Das Wunder war geschehen. ,Du
bist so stark', flüsterte sie. Tage und Nächte kamen und gingen vorbei - das
Mysterium der Schönheit hielt sie in ewig gleichbleibender, singender
Gelassenheit umsponnen."
Das ist so wenig explizit, wie es der Zeit
entspricht, und so eindeutig, wie sie es erlaubt. Sexuell anstößig werden die
Tage und Nächte des Mädchenliebhabers erst bei Nabokov, der sein Manuskript
zunächst anonym veröffentlichen wollte und später nur knapp der Zensur entkam.
Die Übereinstimmung von Handlungskern, Erzählperspektive und Namenswahl ist
gleichwohl frappierend. Leider gibt es, wie Van Veen in "Ada" bemerkt, kein
logisches Gesetz, das uns verraten würde, ab wann eine bestimmte Anzahl von
Koinzidenzen aufhört, Zufall zu sein. Mangels dieses Gesetzes ist die sich
aufdrängende Frage auch nicht zu beantworten, freilich noch weniger abzuweisen:
Kann Vladimir Nabokov, der Autor der einen unsterblichen "Lolita", des stolzen
schwarzen Schwans unter den Romanen der Moderne, das häßliche Entlein seines
Vorgängers gekannt haben? Kann er von ihm - und sei es unbewußt, denn ein
bewußtes Zitat hätte er vermutlich vermieden - angeregt worden sein?
Den
Weg des Autors hätte er jedenfalls leicht kreuzen können. Heinz von Lichberg
lebte fünfzehn Jahre lang im Berliner Südwesten praktisch in Nabokovs
Nachbarschaft. Nabokov war 1922 nach Berlin gezogen und blieb dort, wie er
selbst wohl am wenigsten erwartet hätte, bis 1937. In diesen fünfzehn Berliner
Jahren verlobte er sich mit einer Deutschen, von der er sich wieder trennte; er
lernte Véra kennen, die Frau seines Lebens, und er wurde Sirin - der
bedeutendste russische Autor der jungen Generation. Von den Deutschen allerdings
hielt er nicht viel, und wenn man ihn später auf seine Deutschkenntnisse
ansprach, blieb er immer reserviert. Hätte er Lichbergs "Lolita" überhaupt lesen
können?
Im Jahr 1947 gab er in dem Antrag auf ein Guggenheim-Stipendium
"a fair knowledge of German" an; und das war nicht gemogelt. Nabokov hat nicht
nur Hofmannsthal geschätzt, Kafka verehrt, etliche Gedichte Heines und die
"Zueignung" aus Goethes Faust ins Russische übersetzt. Auch Entlegeneres fiel in
sein Blickfeld; selbst Leonhard Franks heute vergessenem Roman "Bruder und
Schwester" von 1929, der als mögliche Quelle für "Ada" gehandelt wird, gibt er
in einer Erzählung einen kleinen Seitenhieb. Wer Leonhard Frank zur Kenntnis
nehmen konnte, hätte auch auf einen Heinz von Lichberg stoßen können.
Als
Feuilletonist des "Berliner Tages-Anzeigers" war Lichberg in den fünfzehn
Jahren, in denen Nabokov in Berlin lebte, ständig präsent. Angenommen nun, einer
der Zufälle, an denen das Leben reicher ist, als es Romane sein dürfen, hätte
ihm dessen "Gioconda"-Band in die Hände gespielt: Wäre das Thema "Lolitas" bei
Nabokov schon damals auf fruchtbaren Boden gefallen? Dies allerdings. Schon um
1934, also etwa zwanzig Jahre bevor er seinen Roman abschloß, hatte er dessen
ersten Entwurf einer Nebenfigur der "Gabe" in den Mund gelegt. Fünf Jahre später
schrieb er in Paris den Kurzroman "Der Zauberer", in dem sich die Keimzelle
"Lolitas" schon zum fertigen Embryonen entwickelt hatte. Weitere zehn Jahre
später begann er mit der Niederschrift des Romans, den er allen Anfechtungen zum
Trotz im Frühjahr 1954 glücklich beenden konnte. Die Vorgeschichte Lolitas
reicht aber noch weiter zurück.
Nicht erst in der "Gabe" taucht das
junge, noch ungeformte Mädchen auf, dessen Gang einen gestandenen Mann verrückt
machen kann. Schon in der kurzen Erzählung "Ein Märchen" von 1926 schuf Nabokov
eine Kindfrau, die mit ihren "ganz, ganz leicht wiegenden Hüften" dem Helden den
Kopf verdreht. Diese verführerische Vierzehnjährige mit ihren viel zu glänzenden
Augen ist die erste einer Kette von Prä-Lolitas, die von nun an nicht mehr
abreißen wird. Sie ist noch namenlos, aber schon ganz die fatale nymphet, als
die sie Nabokov später ausdrücklich bezeichnen wird. Gleich bei ihrem ersten
Auftritt im Werk zeigt sie ihre dämonisch-phantasmagorischen Züge, auf die der
junge Autor auch durch eine literarische Anspielung verweist. Das Finale seines
Märchens spielt in der "Hoffmann-Straße". Von diesem literarischen Signalmast
zieht sich ein weiterer seidener Faden hinüber zur deutschen "Lolita". Bei
Lichberg heißt gleich der erste Satz: "Irgend jemand warf den Namen E.T.A.
Hoffmann ins Gespräch. Musikalische Novellen." Eine nette, abendliche Runde, die
über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit plaudert. Nach einer halben Seite
schaltet sich ein bislang schweigsam gebliebener Professor ein. Er wolle etwas
berichten, das er schon lange Jahre mit sich herumtrage und von dem er immer
noch nicht wisse, ob es Erlebtes sei oder Phantasie. Und damit setzt die
eigentliche Erzählung, die hoffmanneske Geschichte des Professors ein, die in
ihrem Nymphchen-Kern ebenjenes Thema verkapselte, das bei Nabokov seit den
zwanziger Jahren zu keimen begann.
Folgendes ist ihr Inhalt: Der Erzähler
wird in der süddeutschen Stadt, in der er studiert, zum Stammgast einer
Weinstube, die ein sonderbares Bruderpaar führt - zwei Greise mit zerrauften
rötlich-grauen Vollbärten. Irgendetwas scheint diese Brüder mit Spanien zu
verbinden. Als der Erzähler eines Nachts an der Weinstube vorbeigeht, hört er
jugendlich verwandelte zornige Stimmen, einen heftigen Streit und einen
furchtbaren Angstschrei aus weiblicher Kehle. Bald darauf tritt er seine Reise
nach Spanien an, wo er Lolita begegnen und der Leser die Auflösung des Rätsels
erfahren wird. Bevor wir auf diese Auflösung kommen, folgen wir aber noch ein
letztes Mal den frühen Verpuppungen der nymphet.
Lolita hat eine weitere
und weithin unbekannte Vorläuferin namens Annabella - wie später Annabel,
Humberts erste, unvergeßliche Liebe am Meer. Anabella, ein "ganz junges
Mädchen", wenn auch fünf Jahre älter als Lolita, wie Nabokov in einem Nachwort
später vorsorglich bemerkt, ist eine Figur aus seinem 1938 entstandenen Drama
"Die Walzer-Erfindung". Walzer, der wahnumstrickte Held, verfällt der kleinen
Annabella, die durch Doppeldeutigkeiten immer wieder ins Frivole gerückt wird.
Nabokovs Drama ist straff gebaut und raffiniert komponiert. Um so merkwürdiger,
daß er eine Figur als reine Namensfigur einführt, die keinerlei Funktion hat und
überhaupt nur ein Mal erwähnt wird: ein alter graubärtiger Verwandter des
Helden, angeblich das Erfinder-Genie im Hintergrund. Es handelt sich um einen
Vetter gleichen Namens. In Nabokovs Annabella-Drama winkt uns also ein ominöses
Männerpaar namens Walzer zu. Und wie heißen die graubärtigen Brüder in Lichbergs
"Lolita"? Aloys und Anton Walzer.
Wir nähern uns dem Herzknoten des
Lichbergschen Plots. Lolita ist nicht irgendein junges reizvolles Mädchen. Sie
unterliegt einem Fluch und dämonischem Wiederholungszwang. Der Erzähler erfährt
von diesem spukhaften Hintergrund, nachdem er sich aus Furcht vor Lolitas
gefährlicher Liebe endlich doch zur Abreise entschlossen hat. Ihr Vater erzählt
von Lola, der Großmutter von Lolitas Urgroßmutter, die zu ihrer Zeit so schön
gewesen sei, "daß die Männer sterben mußten, die sie liebten. Kurz nach der
Geburt ihrer Tochter sei sie von zweien ihrer Liebhaber, die sie bis zum
Wahnsinn quälte, ermordet worden.
Fortsetzung auf der folgenden
Seite.
Und seit jener Zeit liegt es wie ein Fluch über der Familie. Immer
nur eine Tochter hätten die Frauen, und immer verfielen sie einige Wochen nach
der Geburt ihres Kindes in Wahnsinn. Aber alle seien sie schön - schön wie
Lolita! ,Meine Frau starb so', flüsterte er ernst, ,und meine Tochter wird so
sterben!' Ich fand kaum Worte, ihn zu trösten, denn die Angst um meine kleine
Lolita kam mit großer Macht über mich."
In dieser Nacht wird der Erzähler
Zeuge einer phantasmagorischen Mordszene. Er glaubt zu sehen, wie Lola - "oder
war es doch Lolita?" - zwei Liebhaber zur Weißglut treibt und schließlich von
ihnen ermordet wird. In den Mördern erkennt er die Zwillingsbrüder Walzer. Am
nächsten Morgen erfährt er, daß Lolita in derselben Nacht gestorben ist.
Gebrochenen Herzens verläßt er Spanien mit dem nächsten Schiff. Jahre später
kommt er in die süddeutsche Stadt zurück, erkundigt sich nach den Brüdern Walzer
und erfährt, man habe sie am Morgen nach der fatalen Nacht tot und freundlich
lächelnd in ihren Lehnstühlen am Ofen gefunden.
Fluch, Dämonie,
Wiederholungszwang: davon ist auch die andere "Lolita" unterströmt. Annabel,
seine erste Liebe am Meer, brennt Humbert für immer die Lust auf die Nymphchen
ein. Sie setzt ihn unter den spell, dem er nur dadurch entkommen kann, daß er
Annabel in Lolita wiederauferstehen läßt. Zugespitzt gesagt, handelt Nabokovs
Roman nicht von Pädophilie, sondern von Dämonie. Nicht nur Humbert fühlt sich
vom Teufel gefoppt und unterliegt einem erotisch-dämonischen Zwang. Lolita
selbst ist, nach seiner unmißverständlichen Definition, ein "unsterblicher
Dämon, verkleidet als Kind".
Bei Lichberg gibt es über die andauernde
Wirkung des Liebesbanns sogar eine genaue Zeitangabe. Als der Erzähler sich von
Lolita trennt, beißt sie ihn mit der ganzen Kraft ihres kleinen Mundes in die
Hand. "Diese Narben der Liebe", gesteht er seinen Zuhörern, "haben selbst
fünfundzwanzig Jahre nicht auszulöschen vermocht." Eine Zeitangabe finden wir
auch, als Humbert zum ersten Mal in Lolita seine wiederverkörperte erste Liebe
erblickt: "Die fünfundzwanzig Jahre, die ich seitdem durchlebt hatte, liefen in
einer zitternden Spitze zusammen und entschwanden." Auch bei ihm hat ein
Vierteljahrhundert nichts löschen können vom Zauber des ersten Liebesfluchs. Und
das Muster - es ist das Muster aller Geschichten von Liebe und Tod - setzt sich
fort. Was sich über die Zeiten hinweg zwanghaft wiederholt, wird immer wieder
gewaltsam aufgelöst.
Lichbergs Erzählung mündet in die traumartige Szene
eines dramatischen, grotesken Mordes. Auch bei Nabokov ist das berühmte Finale
eine traumartige Mordszene. Humbert und Clare Quilty, die beiden Liebhaber
Lolitas, verschmelzen in dieser Szene zu Zwillingen. Wenn es Humbert schließlich
gelingt, den Widerling zu töten, der sein Alter ego ist, hat er damit sein
eigenes Ende besiegelt. Wenige Wochen später ist auch Humbert, der tragische
Satyr, ein toter Mann.
In Lichbergs Erzählung ist das Mordopfer nicht der
Nebenbuhler, sondern die Frau. Mit dieser Variante spielt auch Nabokov immer
wieder. Noch bei seinem Abschied von Lolita kokettiert Humbert damit, daß er
seinen Revolver zücken und eine Torheit begehen könnte. Bekanntlich bleibt
dieses Ende Lolita erspart. Indirekt aber scheint der Fluch aus Lichbergs Werk
weiter auszustrahlen. Lola wird kurz nach der Geburt ihrer Tochter ermordet.
Lolita stirbt im Wochenbett nach der Geburt eines totes Mädchens.
Am 30.
Januar 1933 wurde Hitler in Berlin zum Reichskanzler gewählt. Am Abend dieses
schwarzen Tages wird der Fackelmarsch zum Reichstag in einer landesweit
ausgestrahlten Radiosendung ergriffen kommentiert. Einer der beiden
Radioreporter ist Heinz von Lichberg. Daß der dem Führer huldigende Schöpfer der
ersten Lolita auf diese indirekte Weise jene Lolita befördert hat, die ohne
Nabokovs zweites Exil und den amerikanischen Hintergrund nie hätte entstehen
können, ist eine jener bizarren Pointen, die direkt aus einem Nabokov-Roman
stammen könnten. Bald darauf wird Lichberg in die Schriftleitung des "Völkischen
Beobachters" berufen. 1935 veröffentlicht er den in New York spielenden Roman
"Nantucket-Feuerschiff", das letzte von ihm veröffentlichte Buch. 1937, im
selben Jahr, in dem Nabokov Deutschland verläßt, verabschiedet sich Lichberg von
seinem Publikum. Am 19. Dezember 1937 erscheint noch ein letzter Artikel von ihm
im "Berliner Lokal-Anzeiger", in dem er spürbar gereizt der Bitte des
Schriftleiters folgt, einen Wunschzettel für Weihnachten auszufüllen: "Sehen Sie
- wir Menschen laufen doch alle mit Wunschträumen rum, die wir in der geheimsten
Kammer unseres Herzens verschließen, und die tippt Ihnen doch keiner auf die
durchschossene Seite. Oder glauben Sie, einer erzählt Ihnen, daß er innerlich
von der Sehnsucht nach einem bestimmten Lottchen oder Annchen völlig zernagt
ist?"
Auch wenn man nicht an die Namensspiele denkt, die Nabokov später
mit Lolita und Lotte treiben wird - die geheime, nagende Sehnsucht nach Lottchen
gibt diesem Abschiedsartikel fast etwas Symbolisches. Heinz von Lichberg zieht
sich aus der Öffentlichkeit zurück und macht Karriere in der Wehrmacht. 1943 ist
er im Oberkommando der Abwehr, er kommt nach Polen und nach Paris. 1946 wird er
aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen. 1951 stirbt er, "Oberstleutnant
außer Dienst und Schriftsteller", wie das Adelsverzeichnis vermerkt, kinderlos
in Lübeck, wo er noch kleinere Beiträge für die Lokalpresse verfaßt hatte. Seine
Frau, mit der er seit 1921 verheiratet war, erlebte die sechziger Jahre noch. Es
ist eine kuriose Vorstellung, daß sich bei ihr, als der Hurrikan Lolita über die
Vereinigten Staaten zog und von dort zurück nach Europa raste, eine schwache
Erinnerung an das Jugendwerk ihres Gatten geregt haben könnte. Lolita... Kam ihr
das nicht bekannt vor?
Für den ersten Hinweis auf Heinz von Lichbergs
Erzählungen dankt der Autor herzlich Herrn Rainer
Schelling.