Von Andreas Breitenstein
Ob Vladimir Nabokov die Werke Rainer Maria Rilkes
kannte? Es ist wohl anzunehmen bei seiner Belesenheit, aber
auch, weil beide in ihren späten Schweizer Jahren gleichsam um
die Ecke wohnten - und sei es im Abstand von fünfzig Jahren.
Was den einsamen Pathetiker von Schloss Muzot und den
zweisamen Ironiker vom Palace-Hotel Montreux bei allen
Unterschieden eint, ist nicht nur eine elegische Weltsicht und
ein hoch reflektierter Ästhetizismus, sondern auch eine
Vorstellung von Leben und Tod, Zeit, Raum und Unendlichkeit,
die den abendländischen Dualismus und den christlichen
Gottesbegriff sprengt. Rilke feierte den Tod als
mythisch-kosmische Erfahrung, als Teil eines allumfassenden
«Weltinnenraums», und er wagte sich fast schon über die
Grenzen des Vorstellbaren hinaus, als er in der
traumwandlerischen zehnten «Duineser Elegie» das Eingehen ins
Totenreich als Ineinander von Steigen und Fallen, Glück und
Schmerz beschrieb.
Auch Nabokov hat in seinem Schaffen immer neu
versucht, die Ränder des Daseins zu erkunden. Die
Schmetterlinge waren seine grosse Leidenschaft, doch erscheint
diese als Ausdruck eines umfassenden Interesses für die Dinge,
die jenseits der alltäglichen Wahrnehmung liegen. Eine
eigentliche Geisterkunde lässt sich für Nabokovs Œuvre
anfertigen: von der vorweggenommenen Todeserfahrung in
«Erinnerung, sprich» über die Eichhörnchen in «Pnin» bis zu
den Gespensterszenen in «Das wahre Leben des Sebastian
Knight». Mit dem Kurzroman «Durchsichtige Dinge», der nun
zusammen mit «Sieh doch die Harlekine!» als zwölfter Band der
von Dieter E. Zimmer formidabel edierten und
kenntnisreich kommentierten Gesammelten Werke erschienen ist,
liegt die erzählerische Durchführung der Idee vor, dass es
eine «Demokratie der Geister» gebe und «die Seelen der Toten
Komitees bildeten», die sich «in fortlaufenden Sitzungen dem
Geschick der Lebenden» (Zitat «Pnin») widmeten.
«Durchsichtige Dinge» ist ein Spätwerk von
sphärischer Anmutungsqualität. Gemeinsam nehmen sich
interessierte Verstorbene des Antihelden Hugh Person an,
seines Zeichens Lektor in einem New Yorker Verlag. Hier nun
wird plastisch, was bei Nabokovs Protagonisten oft als Ahnung
aufblitzt: dass es jemanden ausserhalb gibt, der den
kompletten Überblick hat - ein metaphysischer, aber auch
poetologischer Gedanke. So hoch der Autor über seinen Figuren
steht, so hoch sitzen die Geister der Toten über den Lebenden.
Und wie die Menschen das religiöse Bedürfnis umtreibt, so
plagt die Tintenwesen die Frage, wer es denn sei, der - den
Plot ihres Lebens arrangierend - Macht über sie ausübt.
Nabokov lässt seine Figuren gern die richtige Spur aufnehmen
und macht sich dann einen Spass daraus, wenn sie sich beim
Versuch, das ganz Andere zu denken, den Kopf am Papier
einrennen.
TOTENPALAVER
Freilich muss man erst darauf kommen, dass es sich
bei «Durchsichtige Dinge» um ein Totenpalaver handelt. So
bleibt die Erzählinstanz lange Zeit ungeklärt, während die
durchaus handfeste Handlung immer wieder von obskur anmutenden
Statements philosophischer Art zerschnitten wird, ohne dass
sich zwischen den beiden ein Bezug herstellen liesse. Das
Rätsel löst sich auf, wenn man die Sätze als detaillierte
Selbstaussagen der Geister über ihre Existenzform begreift. Es
war Nabokov selbst, der seinen Lesern in Interviews auf die
Sprünge helfen musste, nachdem der Roman 1972 selbst bei einem
Kenner und Bewunderer wie John Updike auf Unverständnis
gestossen war. Als zentraler Erzähler stellt sich der tote
Schriftsteller «Mr. R.» heraus, zu dessen Betreuung Hugh
Person in die Schweiz gereist war und der ein Jahr vor ihm an
Leberkrebs starb.
Hugh Person, der Name sagt es deutlich, ist - ganz
im Gegensatz zum Superhelden Van Veen des opulenten
Vorgängerromans «Ada» - ein Mensch, dem sein Leben chronisch
misslingt und der in seiner Tollpatschigkeit an eine Woody-
Allen-Figur erinnert, etwa wenn er, ohne es zu ahnen, die
Geliebte von Mr. R. in derselben Junggesellenwohnung zu
verführen sucht, in der diese bereits das Vergnügen hatte mit
einem, der mittlerweile im Krieg gefallen ist - und noch immer
stehen dessen Möbel herum. Vier Reisen Persons in die
Westschweiz werden in der Rückblende fassbar: 1950 stirbt dem
Studenten der Vater beim Anprobieren einer Hose in einem
Kleidergeschäft an einem Herzinfarkt weg; 1964 reist der
Lektor im Auftrag des Verlags in den Gebirgsort Witt, um den
exzentrisch-zynischen Grossschriftsteller Mr. R. zu
treffen und zum Abschluss seines nächsten Romans zu bewegen,
wobei er im Zug die schöne, aber kühle Armande Chamar kennen
lernt, die er nach aufopferungsreichem Werben (bis zur
Selbstentblössung beim Skisport) heiratet; 1965 kommt es
erneut zu einem Treffen mit Mr. R. - einen Monat später
erdrosselt Person in Trance seine schlafende Frau, was ihm
sieben Jahre Gefängnis und psychiatrische Klinik einträgt;
1972 kehrt Hugh Person, 40-jährig, auf den Spuren seiner
verlorenen Liebe zurück nach Witt ins Hotel Ascot, wo er bei
einem nächtlichen Brand durch eine Rauchvergiftung
umkommt.
Mehr als nur ein Hauch von Morbidität liegt über
dem Buch, nachgerade drängt sich der «Unrat des Lebens»
apokalyptisch ins Bild: Tote gibt es - meist beiläufig erwähnt
- zuhauf, Feuersbrünste und Unfälle sind der Normalfall. Die
mondäne Welt der Hotels und Kurorte, in die Person am Ende
zurückkehrt, scheint dem Verfall preisgegeben. Vom plötzlichen
Altern des verwitweten Vaters fühlt sich Person angeekelt, und
dessen Tod trägt groteske Züge. Nicht nur lässt Person die
Leiche sogleich einäschern, um sich «des grässlichen
Gegenstands (. . .) zu entledigen», seine neue
Freiheit erprobt der in Liebesdingen ebenso Unbedarfte wie
Unberührte, indem er in Genf die erstbeste Prostituierte
aufsucht. Kommt dazu, dass er an Somnambulismus und
«Traumängsten» leidet, die an Irrsinn grenzen. Person, dem
«ein besonderes Talent und ein besonderer Ehrgeiz» abgehen,
richtet sich nach ein paar kläglichen Anwandlungen von
Kreativität in seiner Mittelmässigkeit ein. Früh «mürrisch»
geworden, ist er als Lektor zunächst ein «grämlicher Sklave»,
der das Kreuz trägt, die Logorrhöe und den sexuellen Appetit
der exaltierten Mrs. Flankard («Das Mannsbild») zu zähmen.
Sodann hat er auch mit dem deutschstämmigen Mister R. und
seinem duftigen Englisch (eine Selbstparodie Nabokovs) nicht
gerade das grosse literarische Los gezogen, doch verbirgt sich
hinter dessen Narzissmus und Grosskotzigkeit immerhin ein
Künstler. Glücklos bleibt schliesslich auch Persons
Leidenschaft für Armande Chamar, beisst er doch regelmässig
auf den Stein ihres «Granitherzens» oder scheitert an ihren
«sexuellen Wunderlichkeiten». Seine Liebe zur «Unliebbaren»
ist lächerlich und fatal zugleich: Der Mord ist zwar eine
Entgleisung, aber zugleich Ausdruck der tiefen Kränkung eines
zum treuherzigen Scheitern Verdammten.
«Durchsichtige Dinge» sind vieles: eine
metaphysische Spekulation, ein Gespensterballett, die
Tragikomödie eines Durchschnittsamerikaners, eine Satire auf
den Literaturbetrieb, eine Abrechnung mit allem neuen Reichtum
und halbintellektuellen Snobismus, eine Selbstparodie des
Verfassers und nicht zuletzt eine (etwas spröde) Hommage an
die Westschweiz, in deren ironisch fiktionalisiertem Raum das
Buch angesiedelt ist - nicht zuletzt, weil es in Montreux und
Saas Fee, Gstaad und Saanen entstand. Der poetische Reichtum
des kurzen Textes ist, wie fast immer bei Nabokov,
frappierend. Dicht ist das System von
Verweisungszusammenhängen, gross sind die Register, die der
Autor stilistisch zu ziehen vermag. Der Text sprüht vor
Bildern und Ideen und schillert in den unterschiedlichsten
Farben der Ironie. Anschauung und Reflexion halten sich die
Waage, wie denn auch der Diskurs der Geister zwischen
Amüsement und Mitgefühl, Scherz und Tiefsinn vibriert. Der
Panik wiederum, die dieses Endspiel durchzieht, steht die
Heiterkeit des Todes entgegen. Die Geisterexistenz, so die
Verheissung, bietet in quasi radiologischer Schau die reine
Ästhetik der Existenz: Die Welt ist transparent geworden, und
nur die Zukunft bleibt verschlossen, weil es sonst keine
menschliche Freiheit und damit keine Bedeutung geben
würde.
Es ist eben diese Würde, die Nabokov in seinem
letzten, 1974 fertiggestellten Roman hochartistisch verteidigt
- und zwar gegen den zunächst begrüssten und geförderten, dann
aber bitter gehassten Biographen Andrew Field, dessen
Fehlleistungen ihm nach 1970 die späten Jahre vergällten.
«Sieh doch die Harlekine!» ist die Parodie einer
Autobiographie und in der radikalen Freiheit im Umgang mit dem
eigenen Lebensstoff Nabokovs Antwort auf den
«Biograffitischmierer» Field, der nicht nur schlampig mit
Fakten umging und auf Skandal aus war, sondern auch noch den
manieristischen Stil des Meisters imitierte. Dass solches
ausgerechnet Nabokov widerfuhr, entbehrt nicht der Ironie,
hatte dieser die Unmöglichkeit, Kunst und Leben
kurzzuschliessen, doch bereits 1939 im Roman «Das wahre Leben
des Sebastian Knight» thematisiert: Ein Erzähler nimmt seinen
toten Bruder, einen Schriftsteller, gegen die Entstellungen
eines unfähigen Biographen in Schutz. Nabokov selber hielt auf
Diskretion und betonte seine Abscheu, «in den kostbaren
Lebensgeschichten grosser Schriftsteller herumzustochern.
(. . .) Der voyeuristische Blick in diese Leben ist
mir zuwider - ich hasse die Vulgarität des human interest, ich
hasse das Röckerascheln und das Gekicher in den Korridoren der
Zeit.» Gerade er, der seine Texte in allernächster Nähe zu
seiner Person ansiedelte, musste auf den Sinn für den
Kunstcharakter von Literatur in erhöhtem Masse Wert legen.
So ist «Sieh doch die Harlekine!» zunächst einmal
ein selbstparodistisches Verwirrspiel, in dem sich Nabokov
gleichermassen über den Voyeurismus von Biographen und Lesern
lustig macht, indem er ihnen gibt, wonach sie verlangen - nur
dass es in vielem ein Negativbild ist (in dessen Art der
Verfremdung selbstredend wiederum manche Wahrheit aufscheint).
Die Pseudobiographie des Schriftstellers Vadim Voinovitch N.
ist eine einzige verbergende Selbstentblössung. Was geeignet
ist, den naiven Leser zu verwirren, ist für den Nabokov-Kenner
ein Eldorado, kann er sich doch nicht nur im Biographiequiz
bewähren, sondern im Schnelldurchgang seine Lektüren
auffrischen. Die Selbstreferenzialität, die Nabokovs Schreiben
ohnehin charakterisiert, erscheint hier auf die Spitze
getrieben. Wenn nicht die Summe seines Schaffens, so ist «Sieh
doch die Harlekine!» doch ein empfindungsgenaues
Schlussfeuerwerk, das als Fanal des heiligen Unernsts nicht
schlecht ans Ende seines Lebens passt.
PARALLELEN UND UMKEHRUNGEN
Mit Vladimir Nabokov teilt Vadim die Initialen,
das Geburtsjahr 1899, die Flucht aus Russland vor den
Bolschewiki, das Studium in Cambridge, die karge Pariser Zeit
in der russischen Exilantenszene, die Berufung an ein
Provinzcollege in den USA, den späten Ruhm und Reichtum durch
einen Roman über ein «Nymphchen», die Heimkehr nach Europa,
das Glück der späten Lebensjahre in der Schweiz. Darüber
hinaus erinnern Vadims Romane in Titel und Inhalt («Bauer
schlägt Dame», «Camera lucinda», «Dr. Olga Repnin», «Ardis»
usw.) an Nabokovs Werke. Doch da gibt es auch die blanken
Umkehrungen: Wo der junge Nabokov liebte und geliebt wurde,
kannte Vadim seine (verkommenen) Eltern kaum. Statt eine
paradiesische Kindheit erlebte Vadim die Hölle, weshalb ihn
auch nicht die Erinnerung trägt und ihm der Wille zur Suche
nach der verlorenen Zeit abgeht. Ungern, ungenau und
unzusammenhängend gibt er seine frühen Jahre preis, wobei er
zwischen Phantasie und Realität nicht streng scheidet. Er
trägt damit dem Rat Rechnung, den ihm die Grosstante einst mit
auf den Weg gegeben hat / haben soll: «Hör auf, Trübsal zu
blasen! (. . .) Sie doch die Harlekine.
(. . .) Rings um dich herum. Bäume sind Harlekine,
Wörter sind Harlekine. Situationen und Summen sind's.
(. . .) Los doch! Spiel! Erfinde die Welt! Erfinde
die Wirklichkeit!»
Vadim führt nicht nur ein Leben am Rande der
Melancholie, sondern auch des geistigen Zusammenbruchs -
angesichts seiner «Probleme mit der räumlichen wie zeitlichen
Unendlichkeit, der Grenzenlosigkeit, der Ewigkeit und der
eigenen Identität». Als Spitze des Eisbergs ragt seine
(eigentlich harmlos anmutende und doch vor jedem Heiratsantrag
theatralisch offenbarte) Unfähigkeit heraus, sich in Gedanken
die Körperdrehung vorstellen zu können. Schon als Kind war
Vadim in psychiatrischen Kliniken, und am Ende des Romans wird
er wohl - «das Ich im Buch stirbt nich im Buch» - an den
Folgen eines «grossen Anfalls» sterben, und dies, obwohl er
sich erlöst glaubt, nachdem seine letzte Frau («Du») den
gordischen Knoten im Kopf löste, als sie ihn darauf aufmerksam
machte, dass er «Richtung mit Dauer» verwechsle: «Er redet von
Raum, meint aber Zeit. (. . .) Zeit ist nicht
umkehrbar.»
Neben den Frauen ist es das Schreiben, das Vadim
vor Depression und Wahn schützt, der ihn indes auch von einer
anderen Seite bedroht - vermutet er in hellen Momenten doch
nicht zu Unrecht, in seinen literarischen Bemühungen nur der
lächerliche Epigone eines weit «grösseren, gesünderen und
grausameren» Autors zu sein, den er nie kennen lernt, mit dem
er aber mitunter verwechselt wird. Als «McNab» oder «Vivian»
wird er etwa angesprochen, doch kann sich Vadim nicht mehr
seines Nachnamens entsinnen, als er nach Wiedererlangung
seines Bewusstseins seine Memoiren niederschreibt. Noch in den
Phantasien der Befreiung bleibt er dem fernen Schöpfer hörig,
darf er doch nur dessen ureigene Obsessionen
durchbuchstabieren: «Sollte ich meine Kunst aufgeben, eine
andere Karriere einschlagen, mich ernsthaft dem Schachspiel
zuwenden oder, sagen wir mal, Schmetterlingskundler werden,
oder ein Dutzend Jahre daran setzen, als obskurer Gelehrter
eine russische Übersetzung von Paradise Lost
anzufertigen . . .?» Ein grausames Spiel spielt
Nabokov mit seiner Figur: Wo Vadim sich auf das Eigene
besinnt, bleibt er Parodie, und wo er sich freizustrampeln
meint, zappelt er im Netz verborgener Bezüge. Aus diesem
Spiegelkabinett ist kein Entrinnen.
Die Konturen verschwimmen in diesem tragikomischen
Roman, doch man darf sich als Leser nicht abschrecken lassen.
Der Ich-Erzähler lässt die Handlung zügig voranschreiten,
wobei sich drei zentrale Momente herauskristallisieren, die
sich durchdringen: Vadims Beziehung zu den diversen Frauen und
Geliebten, seine literarische Karriere und der ihn ständig
anfechtende Irrsinn. Ob seine Musen Iris, Annette, Bel oder
Louise heissen - um nur die wichtigsten zu nennen: Dass sie
eine Funktion seines (Überlebens-)Werks bleiben, ist das
Unglück der Frauen um Vadim, aber auch sein Pech. Nicht
zufällig geht ihnen der Sinn für Poesie ab. Erst im namenlos
bleibenden «Du», das ihn in seiner Kunst und in seinem Leiden
versteht und ihm in die Alte Welt folgt, findet Vadim die
Erlösung, die er sich von der Liebe immer erhoffte und doch
nur in der Flüchtigkeit des Sexes fand. «Sieh doch die
Harlekine!» ist nicht zuletzt ein turbulenter erotischer
Roman: Die jungen Russinnen, die sich in Paris zur Reinschrift
der Manuskripte einfinden, werden reihenweise schwach; Annette
Blagovo, die Vadim in die USA folgt, ist eine von ihnen.
Nachdem sie ihm die Tochter Bel geboren hat, gibt sie ihm für
die Affäre mit Dolly den Laufpass. Der reizende Teenager kehrt
zu Vadim zurück, nachdem ein Tornado Annette aus dem Weg
geräumt hat, worauf dieser zum Selbstschutz die junge
Professorenwitwe Louise heiratet. Dadurch aber verscherzt er
es mit Bel, die sich nach ihrer Internatszeit in der
Westschweiz mit einem revolutionär gesinnten Amerikaner in die
Sowjetunion absetzt, wo sie für den Vater trotz einer Reise
nach Leningrad unauffindbar bleibt. Nur in ihrer Schulfreundin
«Du» wird Bel in Vadims Leben anwesend bleiben.
LUST - UND WEHMUT
Dieses eine Beispiel mag den Montagecharakter des
Romans verdeutlichen: Vadim - das ist eine Mischung aus dem
Negativ-Ich von «Erinnerung, sprich», aus Humbert Humbert
(«Lolita»), aus Van Veen («Ada») und anderen. Die übrigen
Figuren sind kaum weniger Spiegelungen des Werkes. Und wie
Nabokov das altgediente Personal wieder aufs Karussell setzt,
so dekliniert er auch die Stilarten des Erzählens nochmals
durch. Die Lust des alten Mannes an der eigenen Vitalität
drückt sich hier aus, vielleicht aber auch eine Wehmut über
das Schwinden der Zukunft. Für diesen Kraftakt nimmt er auch
gewichtige logische Inkonsistenzen in Kauf - etwa die, ob ein
dermassen erinnerungsarmer, fahriger und konturloser Mensch
wie Vadim überhaupt zum Schriftsteller und Autobiographen
taugen kann, der obendrein noch sehr erfolgreich ist.
Was bleibt, ist Trost. Nabokov war nicht ganz
unvorbereitet, als seine Nacht fiel: «Identitätsprobleme sind,
wo nicht gelöst, so doch wenigstens in Angriff genommen
worden», schrieb er am Ende der «Harlekine»: «Künstlerische
Einblicke wurden gewährt. Mir war gestattet, meine Palette in
sehr abgelegene Regionen zwielichtigen und zweifelhaften Seins
mitzunehmen.» Vielleicht ist es ja wirklich so, dass wir
Lebendigen alle den Fehler machen, dass wir zu stark
unterscheiden.
Vladimir
Nabokov: Durchsichtige Dinge. Roman. Aus dem Englischen von
Dieter E. Zimmer. - Sieh doch die Harlekine! Aus dem
Englischen von Uwe Friesel. In: Gesammelte Werke, Band XII:
Späte Romane. Herausgegeben von Dieter E. Zimmer.
Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 547 S.,
Fr. 47.10.